🖼️ Zukunftsbox Tourismus – Kartenlegen als Annäherung an Utopien
#BildungFürNachhaltigeEntwicklung #Szenarientechnik #DesignThinking #Tourismusentwicklung
Christian Baumgartner
Die Zukunftsbox Tourismus beinhaltet innovative Bildungsmaterialien zur Zukunft des Tourismus. Mit Trendkarten werden Zukunftsszenarien entworfen und diskutiert und durch weitere Kartensets (Megatrend-, Blickwinkel-, Herausforderungs- und Impulskarten) vertieft. Die Zukunftsbox kann in einzelnen Unterrichtseinheiten oder im Rahmen von Design Thinking Prozessen im größeren Kontext eingesetzt werden.
Damit Bildungsinterventionen langfristig und tiefgreifend wirken können, ist eine längerfristige kritisch-reflexive Auseinandersetzung, beispielsweise im Rahmen von realen Projekten, empfehlenswert. Insbesondere bei Design Thinking (DT) Prozessen, die kreatives Entwickeln von individuellen Ideen unterstützen, erscheint es wichtig, dass Lehrer*innen sich der Kritikpunkte an dieser Denk- und Arbeitsweise und dem Prozess bewusst sind. Zu ihnen zählen unter anderem, dass nicht-nachhaltige Handlungsweisen oft nicht oder zu wenig in Frage gestellt werden oder der Fokus zu stark auf die Menschen (‘human centered’) und nicht auf planetare und gesellschaftliche Herausforderungen gerichtet ist. Dazu kommt die insbesondere in Bildungssettings (oft) fehlende Zeit, um sich tiefgreifender im Rahmen eines kritisch-reflexiven Prozesses mit den jeweiligen Themen und Ideen und der Denk- und Arbeitsweise auseinanderzusetzen (Panke 2019, Seitz 2017, Johansson-Skölberg et. al. 2013, Badke-Schaub et. al. 2009).
Pädagog*innen können allerdings im Bewusstsein dieser Kritikpunkte die Lehr-Lernformate entsprechend anpassen und beispielsweise den Fokus bewusst weg vom Menschen auf eine holistische planetenzentrierte Sichtweise oder ausgewählte Aspekte lenken und Raum für eine intensive(re) kritisch-reflexive und längerfristige lösungsorientierte Auseinandersetzung mit den Themen, Problemen und Herausforderungen der Wahl, mit nicht-nachhaltigen Praxen und mit dem DT-Zugang an sich öffnen.
In einer Kooperation des Autors mit Helga Mayr (PH Tirol) wurde 2023 – gefördert vom Netzwerks BiNE Tirol – eine innovative Herangehensweise an die Verknüpfung von Bildung für Nachhaltige (Tourismus)Entwicklung, Design Thinking und Szenarientechnik entwickelt. Die ‚Zukunftsbox Tourismus‘ bietet eine Möglichkeit sich in unterschiedlichen Unterrichtsformaten – von 1 bis 2 Einheiten bis zur Integration in Projekttage und Exkursionen – mit ungewohnten Methoden zur zukünftigen Entwicklung des Tourismus zu arbeiten.
Die Zukunftsbox enthält speziell für das Lernformat entwickelten Trendkarten, mit denen Szenarien gelegt werden können. Sie wurden auf Basis der frei verfügbaren Trendkarten der Zukunftsboxen des futurium, dem Haus der Zukünfte in Berlin, (www.futurium.de) entwickelt und durch weitere Karten ergänzt, die eine Vertiefung der Szenariotechnik ermöglichen.
Die Szenariotechnik als Unterrichtsmethode ermöglicht es Lernenden, zu einem „bestimmten Problembereich mögliche Zukunftsszenarien zu entwickeln (Fischer 2022). Ausgangspunkt bildet die Analyse von Einflussfaktoren und deren (Wechsel)Wirkungen auf mögliche Entwicklungen, die wahrscheinlich oder unwahrscheinlich sein können oder aber - je nach Perspektive - wünschbar oder unerwünscht. Hier werden die Szenarien von den Teilnehmer*innen nicht auf Basis der eigenen Recherche entwickelt, sondern mit Hilfe eines Kartensets, das aus den sieben Kategorien Destinationen, Reisemotive, Mobilität, Arbeit, Essen, Rolle der lokalen Bevölkerung und Organisation und Management besteht. Zu jeder dieser Kategorien gehören vier Trendkarten, auf denen unterschiedliche Ausprägungen der Kategorie beschrieben werden.
Der Ablauf wird an dieser Stelle kurz skizziert, zu ihm gibt es eine Kurzanleitung, die in der Box enthalten ist
1. Bildung von Teams zu je 5 – 6 Personen.
2. Jedes der Teammitglieder wählt eine der Kategorien und nimmt die Kategorienkarte samt der dazugehörigen Trendkarten und liest die Texte.
3. Reihum erklären sich die Teammitglieder jeweils die Kategorie und die Trends. Sie beginnen mit der Kategorienkarte und legen diese, nachdem sie den Inhalt in eigenen Worten wiedergegeben haben, ab. Danach schließt die Phase an, in der sie sich reihum jeweils über den Inhalt einer Trendkarte austauschen und diese neben der jeweiligen Kategorienkarte legen. Sind alle Karten abgelegt, liegen insgesamt vier Szenarien auf den Tisch.
4. Die Teilnehmer*innen haben nun die Aufgabe, die Szenarien zu diskutieren: sind sie in dieser Form, in der sie zufällig entstanden sind, überhaupt realistisch? Sind sie wünschenswert oder handelt es sich um ein Albtraumszenario? Warum?
5. Die Teilnehmer*innenteams können nun einen Schritt weitergehen und aus den Karten ein Wunschszenario zusammensetzen oder – inspiriert durch die Informationen und Diskussionen – mit der nächsten Aufgabe, der Entwicklung von Visionen für einen Tourismus der Zukunft fortsetzen.
Abb.: Mit den Trendkarten der Zukunftsbox gelegte Szenarien.Auf den Rückseiten befinden sich Erläuterungen zur jeweiligen Trendausprägung
Weitere Kartensets ermöglichen eine Vertiefung der Szenarien oder können unabhängig davon eingesetzt werden:
Megatrendkarten: auf 10 Karten werden jeweils mächtige, die Gesellschaft langfristig prägende Trends beschrieben. Zentrale Fragen: Wie wirken sich diese Megatrends auf den Tourismus (der Zukunft) aus? Welche Folgen haben die Trends für ein zuvor erstelltes Zukunftsszenario?
Blickwinkelkarten: die insgesamt 14 Blickwinkelkarten ermöglichen eine multiperspektivische Sichtweise auf Szenarien und/oder Megatrends. Die Perspektiven Politik, Zivilgesellschaft, lokale Bevölkerung, Wirtschaft, Unternehmer*in, Gäste und Umwelt werden dabei jeweils von zwei Personas repräsentiert, die unterschiedlichen Sichtweisen auf das Thema haben. Zentrale Fragen: Wie wünschen sich die einzelnen Personas den Tourismus (der Zukunft)? Warum? Welche Konsequenzen sind damit verbunden? Welche Spannungsfelder ergeben sich aufgrund der unterschiedlichen Sichtweisen? Warum? ...
Wildcards: auf 5 Karten werden extreme/unerwartete Zukunftsereignisse oder Entwicklungen beschrieben. Zentrale Frage: Wie wirkt sich das Ereignis/die Entwicklung auf die Szenarien aus?
Herausforderungskarten: jede der 5 Karten enthält eine als “Wie können wir …" - Frage formulierte Herausforderung, die Ausgangspunkt für die co-kreative Entwicklung von Lösungsideen ist.
Impulsfragen: die insgesamt 5 Impulsfragen-Karten enthalten je eine provokante Frage zum Thema, die von den Lernenden entweder mit “JA” oder “NEIN” beantwortet werden muss, obwohl dies nicht einfach möglich ist. Im Anschluss daran diskutieren sie über das Thema.
Die Materialen beschreiben auch eine Anwendung in Form eines dreitägigen Bootcamps Klimawandel, Tourismus und Nachhaltige Entwicklung. Beim Bootcamp begeben sich die Teilnehmer*innen auf die Suche nach Spuren des Klimawandels im Kontext von Tourismus und Nachhaltiger Entwicklung, diskutieren mit Expert*innen, führen Interviews, entwickeln mögliche Szenarien und schließlich eine Vision eines Tourismus der Zukunft. Ausgehend vom Wissen über die aktuelle Situation und möglicher Entwicklungen sowie der eigenen Visionen formulieren sie konkrete Herausforderungen bzw. Probleme für eine bestimmte Region, für die sie schließlich in Teams Lösungen erarbeiten und prototypisch umsetzen.
Die gesamten Materialien sind auf Deutsch und Englisch zum gratis Download verfügbar: www.responseandability.com/zukunftsbox
- Badke-Schaub, P., N. Roozenburg, & C. Cardoso (2010): Design thinking: a paradigm on its way from dilution to meaninglessness. In Proceedings of the 8th Design Thinking Research Symposium (DTRS8). S. 39-49. Sydney: DAB documents.
- Fischer, M., 2015. Design it! Solving sustainability problems by applying design thinking. In: GAIA Ecological Perspectives for Science and Society 24 (3). S. 174-178.
- Johansson-Sköldberg, U., J. Woodilla, M. Cetinkaya (2013): Design Thinking: Past, Present and Possible Futures. In: Creativity and Innovation Management. John Wiley & Sons Ltd., Vol. 22, Nr. 2, S. 121-146.
- Panke, S. (2019): Design Thinking in Education: Perspectives, Opportunities and Challenges. In: Open Ecudation Studies, 2019; 1: S. 281-306. De Gruyter. DOI https://doi.org/10.1515/edu-2019-0022
- Seitz, T. (2017): Design Thinking und der neue Geist des Kapitalismus. Soziologische Betrachtungen einer Innovationskultur. Bielefeld: transcript 2017
Prof. Dr. Christian Baumgartner
Fachhochschule Graubünden (Schweiz), Institut für Tourismus und Freizeitund response & ability gmbh
Christian Baumgartner ist auf die Entwicklung und Umsetzung von nachhaltigem Tourismus und nachhaltiger Regionalentwicklung spezialisiert und leitete konkrete Tourismusentwicklungsprojekte in Europa, Zentral- und Südostasien. Er verbindet mit Leidenschaft die unterschiedlichen Welten der Politik - Wirtschaft - Forschung & Bildung und Umsetzung.
christian.baumgartner@fhgr.ch
https://www.fhgr.ch/personen/person/baumgartner/
www.responseandability.com
Christina Anderer:
Mich würde interessieren, wie gut sich die Themenbox für andere Fachbereiche adaptieren lässt. Insbesondere die erwähnte Einbettung in verschiedene systemische Perspektiven (Politik, Zivilgesellschaft, lokale Bevölkerung, Wirtschaft,...) ist ja auch für viele andere Fragestellungen - nicht nur im Tourismusbereich - relevant.
Christian Baumgartner:
Sie lässt sich sicher adaptieren - wir haben sie ja auch als Open Source vom Futourium übernommen und komplett für den Tourismus überarbeitet. Meine Kollegin arbeitet gerade an einer Version zur Weiterentwicklung zur 'Globalen Gerechtigkeit' bzw. zu 'Wirtschaft' im Allgemeinen. Aber die Adaption - quasi eine Neuerstellung - ist ziemlich viel Arbeit.